Im Gegensatz dazu steht die topische Kreativität. Bei der topischen Kreativität wird ein neuer Bezug zwischen Bekanntem gestiftet. Der neue Bezug ist dabei nicht einfach eine Kombination aus bereits vorgegebenen Strukturen. Der neu gestiftete Bezug läßt sich nicht aus Gegebenem durch bestimmte (Kombinations-) Regeln ableiten. Hingegen erlaubt er eine völlig neue Sichtweise auf Gegebenes. Neue Aspekte treten hervor, bisher dagewesene Aspekte verschwinden. Die Stiftung eröffnet ein neues Spektrum von Kombinationen, die jenseits der zuvor gegebenen Kombinationsmöglichkeiten lagen. (Dies geht in der Regel einher mit einer neuen - nicht auf die bisherige Beschreibung reduzierbare - Beschreibung des Gegebenen.) So schreibt beispielsweise Ghiselin aus der psychologischen Kreativitätsforschung:
... measure of creative product be the extent to which it restructures our universe of understanding.9.33
Als Beispiele seien hierfür die folgenden genannt:
Insofern ist die topische Kreativität stets bezogen auf eine bisher vorherrschende Sichtweise der Gegebenheiten, die den neu zu stiftenden Bezug nicht in ihrer kombinatorischen Hülle9.37 enthält. Die Dichotomie der kombinatorischen versus topischen Kreativität ist somit eine nur relativ zu Bestimmende, in Abhängigkeit gegebener Repräsentationen der Gegebenheiten und der daraus resultierenden Kombinationsregeln. Bei der Betrachtung menschlicher Kreativität kann man sich dabei auf die in der im Indiviuum oder auch in einer Gesellschaft vorherrschenden, bewußten Sichtweise der Gegebenheiten beziehen. Wenn von Kreativität gesprochen wird, so ist im allgemeinen die topische Kreativität gemeint.9.38
Bezieht man nun diese Dichotomie auf eine künstliche Intelligenz, so läßt sich allerdings der genannte Bezug zu einer vorherrschenden und vor allem bewußten Repräsentation nicht mehr finden - will man Maschinen nicht Bewußtsein zusprechen.
Solange man sich auf die in Abschnitt 5.2 genannten Annahmen bezieht, nämlich daß sich Intelligenzleistungen und damit auch Kreativität immer in schriftlicher Kommunikation manifestieren kann, so ist jede mögliche kreative Leistung bei einer entsprechenden Systemstruktur möglich und weiterhin eine kombinatorische Kreativität. Schließlich läßt sich jede schriftliche Dokumentation einer kreativen Leistung, wie wissenschaftliche Arbeiten, Patentschriften oder literarische Kunst durch geeignete Aneinanderreihung von Buchstaben - also durch Kombination - erzeugen.
In der psychologischen Kreativitätsforschung wird Kreativität oft mehr oder
weniger ausdrücklich als mindestens sechsstellige
Relation angesehen:
9.39
Betrachtet man nur ein einzelnes KI-System, so ist es selbstverständlich, daß eine topische Kreativität - topisch bezogen auf das jeweilige System - nicht möglich ist. Bezieht man topische Kreativität jedoch auf die äußerliche Beobachtung und Beurteilung des Kreativitätsaktes und letztlich auf die schriftliche Manifestation dessen, so läßt sich keine allgemeine Aussage darüber treffen, ob eine künstliche Intelligenz eine solche Kreativitätsleistung hervorzubringen in der Lage ist. Es läßt sich stets trivialerweise feststellen, daß es Systeme gibt, die die jeweilige schriftliche Manifestation erzeugen. Dabei könnte man natürlich einwenden, daß in einem solchen Fall der kreative Akt nicht durch das System zustandekam, sondern durch den Entwickler oder Programmierer.
Doch läßt sich dies sicher nicht in allen Fällen sinnvoll behaupten: Betrachtet man beispielsweise einen Bereich, in dem die Entwicklung zu den fortgeschrittensten in der künstlichen Intelligenz zählt - das Schachspielen, so kann man wohl kaum sagen, daß der Entwickler bereits alle resultierenden Rechenergebnisse im Geiste vorwegnahm. Andererseits muß man auch im Schachspiel - obwohl es vielleicht auf den ersten Blick durch seine klardefinierten Regeln als schlechtes Beispiel erscheint, von menschlichen Kreativitätsleistungen, auch topischen Kreativitätsleistungen, ausgehen. Dies geht auch aus der umfangreichen Schachliteratur hervor, die oft genug von schöpferischen, kreativen Zügen, Partien und Spielern spricht. Eine topische Kreativität kommt hier in Betracht, wo Züge gewählt werden, deren strategisches Ziel ein ganz neues, ein nicht in der vorliegenden Position als typisch angesehenes ist.
Heutige Schachprogramme sind so kompliziert9.40 in ihrem algorithmischen Regelwerk, daß sie weder ein Entwickler noch ein Schachexperte übersehen könnte. In [LHM+91] weist beispielsweise Hsu, einer der maßgeblichen Entwickler des derzeit stärksten Schachprogramms `Deep Thought' darauf hin, daß die Veränderung einer Bewertungsfunktion auf Vorschlag von sehr starken Schachspielern statt zur gewünschten Verbesserung, oft zu einer Stagnation und teilweise sogar zu einer Verschlechterung der Spielstärke führte !
Aus dem obigen Beispiel geht also hervor, daß
Weiterhin ist zu beobachten, daß für die Dichotomie topische vs. kombinatorische Kreativität ein Bewußtsein geradezu von konstitutiver Bedeutung ist. Ein Bewußtsein von dem aus entschieden werden kann, ob das Ergebnis des Kreativitätsaktes eine Kombination geläufiger Elemente nach geläufigen Regeln ist oder ob ein neuer Bezug gestiftet wird, der nicht bekannt war, aber doch begriffen9.42 werden kann, mithin latent bereits im Geiste vorlag.
Aufgrund dieses Sachverhaltes halte ich die Anwendung des Kreativitätsbegriffs
(d. h. der Dichotomie topische vs. kombinatorische Kreativität) auf Maschinen
für einen Kategorienfehler !
Bei Maschinen ist jede Kreativitätsleistung per
definitionem eine kombinatorische.
Da jedoch Maschinen offensichtlich bei hinreichender Porgrammkomplexität
zu Leistungen im Stande sind, die mit topischen menschlichen
Kreativitätsleistungen verglichen werden können, erscheint das
einseitige Absprechen der Fähigkeit der Maschine zu topischer
Kreativität wenig zweckmäßig.
Maschinen gelangen sicherlich auf eine Weise zu ihrem Ergebnis, die bestenfalls metaphorisch mit dem menschlichen Kreativitätsakt verglichen werden kann.
Bei Menschen hingegen gibt es durchaus für beide Kategorien, für die topische
wie für die kombinatorische Kreativität klare Beispiele, obwohl auch
bei Menschen eine Grauzone besteht.
Insofern macht die Unterscheidung beim Menschen noch Sinn - hier läßt sich teilweise introspektiv ein klarer Unterschied wahrnehmen. Bei Maschinen hingegen läßt sich aufgrund der unvergleichbaren Vorgehensweise keine derartige Unterscheidung ausmachen, obgleich mögliche Rechenergebnisse von einem äußerlichen Beobachter in eine der beiden Kategorien eingeordnet werden können.
Beim Menschen ist durch die Beschränkung des Bewußtseins9.43 auch die Menge der noch geläufigen Regeln und Gegenstände beschränkt; bei der Maschine ist dies hingegen von der Konzeption her unbeschränkt.9.44 Daher erscheint mir der Versuch einer Analogiebildung von menschlichen Kreativitätsakten und maschineller Vorgehensweise verfehlt. Hier sei auch noch darauf hingewiesen, daß Computer beim Schachspiel schon sinnvolle Strategien entwickelt haben, die anscheinend zu komplex sind, um vom menschlichen Geist begriffen werden zu können.9.45 Dies wäre eine ganz neue Art von Kreativität, die durch den Computer möglich werden könnte !
Vielleicht hätte es noch am ehesten Sinn, die maschinelle Fähigkeit zu
Leistungen, die von Beobachtern als topische Kreativität eingestuft
werden könnten, zumindest unter anderen Faktoren auch durch die dem
System immanente Kolmogoroffkomplexität zu bewerten. Immerhin
wäre dies mit ein Maß dafür,
inwiefern man den Systementwicklern noch
einen Überblick über mögliches Systemverhalten zusprechen kann.
Sicherlich hängt es auch von der Systemstruktur - z.B. wie allgemein bestimmte Regeln sind etc. - und nicht nur von der Systemkomplexität ab, ob ein Computer zu Leistungen imstande ist, die selbst seine Entwickler als topische Kreativitätsakte kategorisieren würden.