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Zur Entdeckung der Prinzipien von Intelligenz

Als Prinzip wird gemeinhin dasjenige bezeichnet, wovon etwas in irgendeiner Weise seinen Ausgang nimmt, sei es dem Sein oder dem Geschehen oder der Erkenntnis nach. Bei dem methodischen Aufbau von Einzelwissenschaften sind die Prinzipien grundlegende Einsichten bzw. Aussagen, auf denen systematisch das gesamte vorhandene Wissen aufgebaut wird. In diesem Sinn sind Prinzipien (logisch) vor detaillierteren Aussagen der jeweiligen Wissenschaft und haben einen generelleren Anwendungsbereich als spezialisiertere All- oder Einzelaussagen. In der künstlichen Intelligenz erhofft man sich durch die Aufdeckung der Prinzipien von Intelligenz einen leichten und gangbaren Weg zu intelligenten Systemen. In der Kognitionswissenschaft rechnet man damit, durch die Erkenntnis der Prinzipien eine allgemeine Erklärung für das menschliche Denken zu erhalten.


Zunächst soll jedoch das durch natürliche Intelligenz hervorgebrachte Verhalten näher betrachtet werden. Alan M. Turing ging in seinem Artikel Computing machinery and intelligence 1950 TuringTuring[Tur50] davon aus, daß sich alle relevanten Äußerungen von Intelligenz gleichermaßen zeigen, wenn das intelligente Wesen ausschließlich schriftlich (d.h. über einen Fernschreiber) mit seiner Umwelt kommuniziert.6.9 Die folgenden Betrachtungen lehnen sich an diese Annahme an.

Alle schriftliche Kommunikation läßt sich dargestellt durch entsprechend lange Zeichenketten auffassen. Somit werden bei einem Dialog bestimmte Zeichenketten in abwechselnder Reihenfolge von beiden Partnern geäußert. In der Regel ist die Äußerung eines Partners von den vorhergehenden Äußerungen seines Dialogpartners abhängig. Mithin läßt sich also ein lebenslanger Dialog eines intelligenten Wesens W mit seiner Umwelt wie folgt beschreiben: W äußert eine Zeichenkette ZA1 der Länge lA1. Daraufhin empfängt W eine Zeichenkette seiner Umwelt ZE1 der Länge lE1. W äußert daraufhin eine Zeichenkette ZA2, deren Gestalt und Länge eventuell von ZE1 abhängen usw. Da man von einem intelligenten Wesen erwartet, daß es auch dann eine als intelligent empfundene Äußerung ZA2 tätigt, falls ZE1eine beliebige andere Zeichenkette gewesen wäre, muß W also ein ganzes Repertoire an Reaktionen auf mögliche Äußerungen seiner Umwelt bereit halten. Formal könnte man dies wie folgt beschreiben:

W hält für jede Zeichenkette die es empfangen könnte, eine geeignete Reaktion bereit. Bei einer empfangenen Binärzeichenkette der Länge lE1 muß W für 2(lE1) verschiedene Fälle gewappnet sein. Hierbei werden die allermeisten Zeichenkombinationen freilich keine sinnvollen Sätze ergeben. Wie dem auch sei, die dritte Äußerung von W, ZA3 wird abhängig von der ersten und der zweiten empfangenen Zeichenkette ZE1 und ZE2 sein. Angenommen, die Summe der Längen aller empfangenen Zeichenketten während der Lebenszeit von W, lEges sei höchstens 1015. Ebenso sei die Summe lAges der Längen aller geäußerten Zeichenketten von W höchstens 1012. Dann muß W also höchstens auf 2(1015) verschiedene Äußerungen mit eigenen Äußerungen von einer Gesamtlänge von höchstens 1012 Zeichen reagieren können. Dies ist eine sehr grob abgeschätzte obere Grenze. Für die ersten Äußerungen von W müssen erheblich weniger Fälle vorgesehen sein, als für die letzten Äußerungen von W, da die ersten Äußerungen nicht so stark von den Umweltreaktionen abhängen. Die Gesamtheit all dieser potentiellen Reaktionen könnte man in einer einzigen sehr langen Zeichenkette ZInt speichern. In ZInt wäre dann die gesamte Information enthalten, die ein intelligentes Verhalten erfordert. Es könnte für jede der möglichen 2(1015) verschiedenen Umweltäußerungen jeweils

eine Teilzeichenkette von der Länge 1012 nacheinander in ZInt enthalten sein.6.10 Somit wäre ZInt von der Länge $2^{(10^{15})}\times 10^{12}\approx 3\times 10^{(10^{14})}\approx 10^{100\ 000\ 000\ 000\ 000}$.


Es ist ziemlich klar, daß sich eine so lange Zeichenkette nicht physikalisch darstellen läßt - bei einer geschätzten Zahl von Atomen im Weltall von $\approx 10^{80}$. Trotzdem ist es fruchtbar, über diese Zeichenkette zu sprechen. Wie in dem Abschnitt über die algorithmische Informationstheorie gezeigt wurde, hat jede Zeichenkette eine gewisse inhärente Komplexität. Je nach dem wieviel Regelmäßigkeit in ZInt enthalten ist, läßt sich ZInt durch eine eventuell erheblich kürzere Zeichenkette beschreiben, wobei die Beschreibung durch eine universelle Turingmaschine interpretiert wird. Angenommen, die kürzestmögliche Darstellung von ZInt, also die Kolmogoroffkomplexität von ZInt,   K(ZInt) ist von der Größenordnung 1012. Dann würde ein entsprechendes intelligentes Verhalten einen Gehalt von 1012 Bits an   algorithmischer Information erfordern.

Weiterhin sei angenommen, in der KI-Forschung bzw. in der Kognitionswissenschaft würden bestimmte Techniken entdeckt, die als die Prinzipien von Intelligenz bzw. als die     Prinzipien des Denkens gelten sollen. Eine präzise Beschreibung dieser Techniken wird nicht zu lang sein. Beispielsweise wird die Beschreibung höchstens von der Länge 106 Bits sein dürfen. Erfordern die Techniken eine längere Beschreibung, so wird ein Mensch sie in ihrer Gesamtheit kaum noch übersehen und verstehen können. Sie werden daher auch schwerlich als die Prinzipien des Denkens gelten können. Mit diesen Prinzipien wären also höchstens 106Bits der angenommenen 1012 Bits, die für ein intelligentes Verhalten notwendig sind bekannt. Somit wären für eine vollständige Beschreibung von intelligentem Verhalten noch die verbleibenden $10^{12}-10^{6}\approx 10^{12}$ Bits an algorithmischer Information erforderlich. Das heißt, der Anteil der Prinzipien an der insgesamt erforderlichen algorithmischen Information würde in jedem Fall von einer vernachlässigbaren Größe sein. Mit anderen Worten würden bei der Konstruktion von intelligenten Systemen die entdeckten Prinzipien nur einen vernachlässigbaren Teil der Arbeit erledigen - verglichen damit, daß ohne Kenntnis dieser Prinzipien unmittelbar eine universelle Turingmaschine programmiert werden müsste.6.11 Dennoch stellt sich die Frage, wodurch sich Prinzipien von Intelligenzleistungen auszeichnen - wenn man davon überhaupt sprechen kann.


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Achim Hoffmann
2002-07-12