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Kognitive Selbstorganisation

Maturana Maturana[Mat70] und Varela untersuchten in Varela[MV82,MV80,MV87] die Selbstorganisation9.20 biologischer Systeme.9.21

Sie übertrugen ihre biologischen Untersuchungsergebnisse in eine Theorie der Erkenntnis biologischer Systeme im allgemeinen. Biologische Systeme - insbesondere das menschliche Gehirn - beruhen auf einer sehr großen Anzahl von kleinen, langsamen Verarbeitungseinheiten - den Neuronen. Diese Verarbeitungseinheiten sind hochgradig miteinander vernetzt.9.22

Jedes der einzelnen Verarbeitungseinheiten arbeitet nur lokal, d.h. seine Funktionsweise wird nur durch seine unmittelbare Umgebung, seine angeschlossenen Nachbareinheiten beeinflußt. Durch das gleichzeitige parallele Wirken aller im Gesamtnetz vorhandenen Neuronen entsteht ein von dem lokalen Verarbeitungsmechanismus `abgekoppeltes' Gesamtverhalten. Das Gesamtverhalten kann nicht durch die Betrachtung nur lokaler Prozesse erklärt werden. Dies wird auch als Emergenz oder emergentes Verhalten   bezeichnet.9.23 Auch Varela [Var90] stützt sich ähnlich wie Dreyfus Dreyfus[DD88] bei der Argumentation für seine Sichtweise auf phänomenologische Einsichten die auf Heidegger, Merleau-Ponty und andere zurückgehen.

Seine grundlegende Idee ist, daß sich kognitive Systeme nicht auf Repräsentationen beziehen, nicht auf eine äußere `Realität' referieren, sondern eine interne komplexe kognitive Organisation entwickeln, welche die äußeren Reize strukturiert und interpretiert. Somit kreieren biologische Systeme ihre eigene Erfahrungswelt.   Es kommt nicht auf eine wie auch immer geartete Korrespondenz interner Strukturen, Repräsentationen oder Aktivierungsmuster9.24 mit einer äußeren `Realität' an. Es genügt vielmehr, wenn das emergente Verhalten eines kognitiven Systems hinreichend an die Umwelt angepaßt ist. Diese Angepaßtheit wird auch als Handlungswirksamkeit   oder viable Struktur bezeichnet.9.25   Varela nennt als Beispiel dieser Koppelungsprozesse, die also nicht auf eine `realistische' Repräsentation einer `äußeren Welt' abzielen, das menschliche Farbensehen:9.26 Physiologische Untersuchungen zeigten, daß Menschen beispielsweise ein graues Blatt Papier, wenn es vor einen roten Hintergrund gelegt wird, nicht mehr als grau sondern als grün wahrnehmen.

Er weist auf physiologische Untersuchungen hin, nach denen bestimmte Vögel vier verschiedene Farbrezeptortypen haben - statt wie beim menschlichen Farbwahrnehmungsapparat nur drei. Dies würde vermutlich in unterschiedlichen, nicht aufeinander reduzierbaren Farbwahrnehmungswelten resultieren.

Insofern rekonstruieren oder beinhalten mentale Repräsentationen nicht Informationen aus einer   externen Wirklichkeit. Vielmehr entstehen mentale Repräsentationen durch Interaktion mit der Umwelt. Die Interaktionen haben dabei mehr eine auslösende als eine instruktive Rolle. Es findet kein Informationsaustausch statt, der eine strukturelle Ähnlichkeit zwischen mentalen Strukturen und den Strukturen der Umwelt bedingt. Es handelt sich vielmehr bloß um eine Koppelung zwischen `Umweltereignissen' und des `Geistes Erzeugung von neuen Seinsweisen'. Der Geist ist autonom und bestimmt innerhalb eines unendlichen Repertoires von Verhaltensweisen, eine Verhaltensweise, die an die wahrgenommenen Umweltereignisse gekoppelt ist. Koppelung bedeutet dabei nicht Korrespondenz. Es ist keine strukturelle Übereinstimmung zwischen Umweltsignalen und mentalen Strukturen erforderlich. Grob gesagt ist die Bedeutung der mentalen Repräsentationen eines autonomen Systems mehr vom Subjekt abhängig als von der um das Subjekt herum bestehenden `Realität'.

Varela sieht in seiner Sichtweise der Selbstorganisation kognitiver Systeme auch die Grundlage einer umfassenden künstlichen Intelligenz:

Will man außerdem eine künstliche Intelligenz schaffen, die Maschinen herstellt, die in dem Sinne intelligent sind, daß sie mit dem Menschen zusammen (so wie die Tiere) eine gemeinsame Welt des Verstehens und Handelns aufbauen, dann sehe ich keinen anderen Weg dafür, als diese Maschinen in gleicher Weise durch einen Prozeß evolutionärer Transformationen zu entwickeln bzw. zu erziehen, wie es die handlungsbezogene Perspektive nahelegt.9.27

Varela geht also davon aus, daß bestimmte Regularitäten innerhalb der durch Sinnesorgane aufnehmbaren Signale im Laufe der phylo- bzw. ontogenetischen Entwicklung eines Individuums gefunden werden. Dementsprechend organisiert sich dann ein kognitives System, das eine einigermaßene Stabilität zwischen den Signalen der Sinnesorgane und den kognitiven Prozessen (also so etwas wie erfüllte Erwartungen) aufweist.

Vom komplexitätstheoretischen Standpunkt aus betrachtet, erscheint diese Vorstellung wie folgt:

Zunächst kann von der verteilten Struktur neuronaler Systeme völlig abstrahiert werden. Nur die Kolmogoroffkomplexität eines kognitiven Systems, das sich aufgrund einer Flut von `Sinnesdaten' selbst zu einem hochkomplexen System entwickelt, soll betrachtet werden. Dabei stellt sich die zentrale Frage, wie groß ein möglicher Komplexitätszuwachs in einem kognitiven System ist, das mit einer entsprechenden Menge von Sinnesdaten konfrontiert wird:

Wieviel (algorithmische) Information muß ein System bereits inkorporieren, bevor es in der Lage ist, in einer großen Datenmenge zweckmäßige Regelmäßigkeiten zu erkennen und diese in eine zweckmäßige, handlungswirksame, viable Veränderung (oder Erweiterung) der eigenen Struktur einfliessen zu lassen.

Denn in gewisser Weise ähnelt Varelas Vorstellung - in Begriffen der Kolmogoroffkomplexität - dem Münchhausen, der sich an seinem eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen will.

Jedenfalls läßt sich schnell erkennen, daß die Organisation eines kognitiven Systems nicht wesentlich an Komplexität zunehmen kann, wenn die präsentierten Sinnesdaten von einfacher Beschreibbarkeit sind, d.h. wenn sie entsprechend regelmäßig sind.9.28

Ein selbstorganisierendes System braucht in jedem Fall bereits eine gewisse Information, um die Sinnesdaten so strukturieren zu können, daß es sie für eine Weiterentwicklung nutzen kann.

Freivalds und Hoffmann Hoffmann[FH92] stellen einen formalen Rahmen für die Untersuchung von selbstorgansierenden Systemen vor. Erste Ergebnisse über die prinzipiellen Möglichkeiten und Grenzen der Komplexitätssteigerung selbstorganisierender Systeme   werden ebenfalls dort präsentiert. Ein einzelnes Ergebnis daraus soll kurz skizziert werden:



 
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Achim Hoffmann
2002-07-12