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Komplexes Verhalten und dessen kompakte Organisation

Die Aufgabe eines komplexen Systems in einer natürlichen Umwelt stellt sich derart, daß es sich zunächst einmal nur in irgendeiner Weise `sinnvoll' verhalten muß. Dazu zählt gegebenfalls auch ein geeignetes Sprachverhalten.

Das System muß sich seiner Umwelt in gewisser Weise anpassen. Zum Beispiel, falls Nahrung nicht an dem gewohnten Ort zu finden ist, Nahrung anderweitig zu besorgen.

Hier ist also eine geeignete Veränderung des üblichen Verhaltens erforderlich. Bei sprachlichen Äußerungen würde diese Forderung erheblich über die sonst üblichen Randbedingungen des einfachen Lebens hinausgehen. Dann ist auch das geeignete Verwenden sprachlicher Ausdrücke sowie angemessene Reaktionen auf sprachliche Äußerungen anderer Individuen gefordert.

Damit ein System sich an seine Umwelt anpassen kann, muß überhaupt erst einmal ein geeignetes Verhaltensrepertoire zur Verfügung stehen. `Anpassung' meint hier, im Falle einer Veränderung der Umwelt, das Systemverhalten angemessen zu verändern.

Das System muß also für die faktisch auftretenden äußeren Situationen über je geeignete Verhaltensweisen verfügen.

Der Begriff der Änderung (oder Anpassung) einer Verhaltensweise an eine Umwelt hängt dabei nicht nur von der Umwelt ab, sondern auch von dem, was als Verhaltensweise gilt, und damit auch von den impliziten Erwartungen an die Gegebenheiten in der Umwelt.9.9 Im folgenden sollen unter Verhaltensweisen nicht nur stereotype Bewegungen verstanden werden, sondern auch Verhalten, dem komplexere Strukturen zugrunde liegen. Eine verhältnismäßig einfache Struktur könnte beispielsweise das Zähneputzen betreffen. Dort könnte eine einfache Verhaltensweise, der periodischen Bewegung der Zahnbürste auf der Oberfläche der Oberkieferzähne entsprechen. Eine umfassendere und damit auch komplexere Verhaltensweise könnte das Putzen des gesamten Gebisses einschließlich der Vor- und Nachbereitung beinhalten. Darin wäre das Auffinden der Zahnbürste inbegriffen, die an je verschiedenen Orten liegen kann. Wenn die Zahnbürste sich etwa noch innerhalb des Badezimmers befindet, so würde man vielleicht kaum von einer Anpassung an die Umwelt sprechen. Ist die Zahnbürste hingegen dort nicht zu finden, so kommt schon eher der Terminus Verhaltensänderung für das Systemverhalten in Betracht - beispielsweise weil auf das Zähneputzen ganz verzichtet wird, oder erst eine Zahnbürste eingekauft wird.

Der Fall in dem eine Verhaltensänderung erforderlich wird, könnte man auch mit Heideggers Störung des Verweisungszusammenhangs   vergleichen. Durch Heideggers Begriff der Störung liesse sich damit auch der Begriff der Verhaltensweise definieren. Bei Heidegger ist diese Begrifflichkeit jedoch eng mit einem involvierten Bewußtsein und bewußt werdenden Störungen verbunden.

Da wir jedoch bei unseren Betrachtungen von einem Bewußtsein und damit auch von jedem möglichen Bewußten absehen, läßt sich der Begriff der Verhaltensweise nur durch bestimmte Merkmale seiner Beschreibung - seiner algorithmischen Beschreibung - charakterisieren.

Um eine unnötig umfangreiche Beschreibung des gesamten Verhaltensspektrums zu vermeiden, lassen sich Situationsklassen bilden, in denen jeweils das gleiche Verhalten gezeigt werden soll. Diese Situationsklassen lassen sich auf verschiedenen Hierarchieebenen bilden. Beispielsweise könnten die folgenden Situationsklassen auf je verschiedenen Hierarchieebenen gebildet werden:

1.
Situationen in denen ein Arm gehoben werden soll.
2.
Situationen in denen ein Gegenstand ergriffen werden soll, der sich irgendwo im Umkreis von wenigen Metern des Systems befindet.
3.
Situationen, in denen eine Lebensmittelkonserve geöffnet werden soll.
4.
Situationen in denen Nahrung beschafft werden soll.

Durch eine derartige hierarchische Klassifikation von Verhaltenssituationen ensteht eine Struktur, der man auf den verschiedenen Ebenen auch Ontologien, konkrete und abstrakte, Einzel- und Allgemeinbegriffe   zuordnen kann - und müsste, würde man nur ein erkennendes Bewußtsein, das ähnlich dem menschlichen Bewußtsein ist, dabei voraussetzen.


 
Abbildung 8.1: Beispiel einer hierarchischen Situationsklassifikation zur Strukturierung des Verhaltenspotentials: Verhaltensweisen, das Haus zu verlassen unterscheiden sich im wesentlichen dadurch, ob die Treppe oder der Aufzug benutzt wird. Dieser Unterschied ist allerdings irrelevant, wenn eingekauft oder zur Arbeit gegangen werden soll. Nur im Fall eines Feueralarms ist die Verhaltensstrategie `Haus verlassen' nicht uneingeschränkt benutzbar.
\begin{figure}\centerline{\psfig{figure=figures/Begriffshierarchie1.ps,height=4cm}}\end{figure}

Die obigen Beispiele von Situationsklassen beziehen sich zwar auf typisch menschliches und europäisch tradiertes Denken - allerdings ist festzuhalten, daß einer kompakten Beschreibung langer Zeichenketten notwendigerweise eine gegebenfalls hierarchische Klassenbildung entspricht.9.10

Bei der in Abschnitt 5.2 genannten Annahmen einer ausführlichen Beschreibung allen potentiellen menschlichen Verhaltens durch eine Zeichenkette der Länge $\approx 10^{10^{14}}$ und deren angenommene mögliche kompakte algorithmische Beschreibung durch eine Zeichenkette der Länge 1012 ist eine Bildung von umfangreichen Situationsklassen unvermeidlich. Wieviele Hierarchieebenen bei einer solchen notwendigen Klassenbildung entstehen müssen, hängt vom spezifischen Einzelfall der kompakt zu beschreibenden Struktur ab. Ob eine solche Klassenbildung typisch menschlichen Kategorisierungen entsprechen muß, ist damit ebenfalls noch nicht beantwortet.

Weiterhin läßt sich festhalten, daß die Klassenbildung durch eine bestimmte Vorgabe von Verhalten keineswegs eindeutig bestimmt wird. Siehe Abbildung 8.2 in der ein ein einfaches Beispiel dafür gegeben ist.

  
Abbildung 8.2: In obigem Schema sind verschiedene Kategorisierungen vorgenommen, die insgesamt zu äquivalentem Verhalten führen. Während in a) der eingeschränkte Begriff `Trinkgefäß' erforderlich ist, um aus keiner Vase trinken zu müssen, wird dies in b) implizit dadurch gewährleistet, daß die Verhaltensstrategie vorschreibt, erst zu dem Küchenschrank zu gehen. In diesem ist faktisch keine Vase enthalten. Dadurch kommt das System ohne die entsprechende Unterscheidung aus, und zum gleichen Ziel.
\begin{figure}\centerline{\psfig{figure=figures/Begriffshierarchiegesamt.ps,height=7cm}}
\end{figure}

Wie dem auch sei, eine Klassenbildung von Situationen, in denen je gleiches bzw. analoges Verhalten gefordert ist, wird sich an tatsächlich vorkommenden Situationen orientieren müssen. Die Klassenbildung muß also implizit oder explizit wiederspiegeln können, in welche adäquate Situationsklasse die augenblickliche Situation (Umwelt-System-Verhältnis) einzuordnen ist. Die Klassenbildung muß also die Grundlage dafür bieten, die Umweltsituationen adäquat zu unterscheiden. Es muß anzeigbar sein, ob bestimmte Situationscharakteristika vorliegen oder nicht vorliegen, die bestimmte Verhaltensweisen erfordern. Das heißt, die Welt (Umwelt) gliedert sich dadurch in Erfüllungsbedingungen der verschiedenen Situationsklassen auf.9.11 Von der Voraussetzung, daß ein System eine komplexe Verhaltensbeschreibung erfordert, gelangten wir zu einem ganz ähnlichen Ergebnis, was die potentielle Entstehung oder Erzeugung einer `Weltvorstellung' angeht; jedoch fehlt bei unserer Analyse gänzlich eine erkenndendes Bewußtsein.


Somit wurde dargelegt, daß sich zwangsläufig eine hierarchische Klassenbildung - implizit oder explizit - bei der kompakten Organisation eines intelligenten Verhaltensrepertoires ergibt.

Die obigen Ausführungen gelten natürlich nicht nur für `motorisches Verhalten', sondern auch für Sprachverhalten. Das Sprachverhalten würde sich ebenfalls entsprechend den Erfordernissen ergeben, die in der jeweiligen Lebensumgebung typischerweise mitgeteilt werden müssen. Damit erscheint es in hohem Maße kulturabhängig. Dies gilt entsprechend der obigen Ausführungen auch für die sich parallel entwickelnde `interne Ontologie' eines solchen Systems.


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Achim Hoffmann
2002-07-12