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Wittgensteins Regelbegriff

Wittgenstein untersuchte in seinen Philosophischen Untersuchungen WittgensteinWittgenstein[Wit53] die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke, die er dort auf den Sprachgebrauch zurückführt. Wittgenstein betont, daß wir die Bedeutung von Worten durch Beispiele lernen. Wir lernen Begriffe oder Wortbedeutungen so, daß der jeweilige Geltungsbereich nicht scharf abgegrenzt ist. Wenn scharfe Grenzen von Begriffen angegeben werden können, so ist das die Ausnahme.

Regeln oder Begriffe werden nicht durch die logische Summe ihrer Beispiele explizit definiert. Die Regel oder der Begriff wird durch eine nicht weiter hintergehbare Ähnlichkeit gegeben, die unter den zu ihrer Definition   angegebenen Beispielen besteht. Diese Ähnlichkeit wird durch jedes neu hinzukommende Beispiel fortgeschrieben, verengt, verändert oder auch erweitert.9.2 Somit liegt ständig eine umfassende Menge von fragmentarischen Sprachverwendungs- bzw. Begriffsverwendungsregeln vor.

Damit erfolgt die Subsumption einer neuen Erfahrung, eines neuen Beispiels unter einer bestimmten Regel aufgrund erst fragmentarisch angeeigneter Regeln und Kategorisierungen. Nicht nur die fragmentarische Form der subsumierenden Regel wirkt bestimmend, sondern auch die fragmentarische Form möglicher Alternativregeln, unter denen die Erfahrung subsumiert werden könnte. Die Subsumption gründet damit in der nur holistisch zu begreifenden Gesamtheit der Regelfragmente. Die Gesamtheit der Regeln ist eingebettet in die menschliche Lebenspraxis. Die Kategorisierungen nehmen somit die Lebensgeschichte des Individuums in sich auf.


Das Erlernen von Regeln beinhaltet daher immer zwei Punkte:

Dazu unterscheidet Quine die Rezeptionsähnlichkeit und die Wahrnehmungsähnlichkeit.9.3 Das erste meint eine rein physikalische Ähnlichkeit der Einwirkung auf die Oberflächen der Sinnesorgane, ohne Rücksicht auf die kognitive Wirkung oder das Verhalten. Letzteres hingegen meint keine Ähnlichkeit der Reizeinwirkungen auf die Sinnesorgane, sondern eine Ähnlichkeit auf einem von dieser unmittelbaren physikalischen Ähnlichkeit weit abstrahierten konzeptuellen Ebene. Sie kann beliebig eingeschränkt sein, auf nur einen ganz bestimmten Aspekt und hängt von der Disposition des Individuums ab,9.4 also von dem jeweiligen situativen Zusammenhang, in dem eine Erfahrung steht.

Daraus folgt für Wittgenstein, daß die Gesamtheit von Begriffsbedeutungen im menschlichen Denken und sprachlichem Handeln, konstitutiv für die menschliche Lebenswelt ist. Mithin bedeutet eine Sprache gemeinsam zu haben, auch eine Lebenswelt gemeinsam zu haben. Fachsprachen, Nationalsprachen, Slang oder Sprachen unter alten Freunden entstanden je unter spezifischer Praxis im Sprachgebrauch und sind jeweils wirklichkeitskonstitutiv für die einzelnen Teilnehmer der genannten Sprachpraxis.

Im Zusammenhang mit der künstlichen Intelligenz ist zu bemerken, daß Wittgensteins Untersuchungen zum Regelfolgen9.5 deutlich machen, daß sich der Kern des menschlichen Regelfolgens einer exakten Beschreibung immer wieder entzieht. Beispiele dienen immer nur als (partielle) Explikation; das Verständnis der Regelhaftigkeit jedoch muß in irgendeiner Weise weiter reichen als alle Beispiele:

208. $\ldots$ Es ist zu unterscheiden: das `usw.', das eine Abkürzung der Schreibweise ist, von demjenigen, welches dies nicht ist. Das `usw. ad inf.' ist keine Abkürzung der Schreibweise. Daß wir nicht alle Stellen von $\Pi$ anschreiben können, ist nicht eine menschliche Unzulänglichkeit, wie Mathematiker manchmal glauben.

Ein Unterricht, der bei den vorgeführten Beispielen stehen bleiben will, unterscheidet sich von einem, der über sie `hinausweist'.

209. `Aber reicht denn nicht das Verständnis weiter als alle Beispiele ?' - Ein sehr merkwürdiger Ausdruck, und ganz natürlich ! -

Aber ist das alles ? Gibt es nicht eine noch tiefere Erklärung; oder muß nicht doch das Verständnis der Erklärung tiefer sein ? Habe ich mehr, als ich in der Erklärung gebe ? - Woher aber dann das Gefühl, ich hätte mehr ?

Ist es, wie wenn ich das nicht Begrenzte als Länge deute, die über jede Länge hinausreicht ? 9.6

Für unsere Zwecke lassen sich die zwei folgenden Aspekte grundsätzlich voneinander unterscheiden:

1.
Der bisherige Geltungsbereich einer Regel; welcher gewöhnlich durch Beispiele ansatzweise expliziert wird.
2.
Die Art und Weise wie sich eine Regel fortschreibt; welche sich immer nur im Rückblick auf vergangene Veränderungen der Regelanwendungen bestimmen läßt.


Es läßt sich feststellen, daß Wittgensteins Untersuchungen keine operationale Erklärung bzw. Beschreibung der menschlichen Regelverwendung und insbesondere der   Regelfortschreibung geben. Vielmehr sind es Beschreibungen auf einer Metaebene. Es wird darauf verwiesen, daß es noch bestimmte nicht weiter beschriebene Prozesse gibt, die letztlich die Regelfortschreibung im Einzelnen bestimmen. Insofern können die Überlegungen Wittgensteins zum Regelbegriff in der menschlichen Begriffsverwendung noch nicht unmittelbar für die Entwicklung von KI-Systemen genutzt werden.


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Achim Hoffmann
2002-07-12