next up previous contents index
Next: Die phänomenologische Kritik an Up: Phänomenologie Previous: Phänomenologie

   
Heideggers Philosophie aus Sein und Zeit

Heideggers Phänomenologie ist für die vorliegende Arbeit von besonderem Interesse, da sie die Grundlage für heutige philosophische Kritiken an der künstlichen Intelligenz, insbesondere an der   physical symbol system hypothesis darstellt.8.4 Obgleich natürlich nicht die gesamte Systematik Heideggers referiert werden kann, soll versucht werden, die für die Kritik an der KI wichtigen Stellen deutlich zu machen.

Heideggers Konzeption seiner neuen Phänomenologie in seinem umwälzenden Werk Sein und Zeit 19278.5 in Heidegger[Hei27] läßt sich durch die folgenden sechs Stufen beschreiben:

1.
Die Grundfrage nach dem Sinn von Sein.
2.
Die Klärung der Frage nach dem Sinn von Sein kann nur im Rückgang auf das einzig Seiende, das Dasein erfolgen.  
3.
Das Wesen des Daseins ist das In-der-Welt-sein.  
4.
Das Wesen des In-der-Welt-seins ist die Sorge.  
5.
Das Wesen der Sorge ist die Zeitlichkeit, wie sie sich in der Sterblichkeit und Endlichkeit - im Tod - manifestiert.  
6.
Diese Zeit ist die ursprüngliche Zeit, von der her alle andere Zeit (die Geschichtszeit, die Uhrzeit, die astronomische Zeit etc.) überhaupt erst verstehbar wird.

Die Gliederung deutet an, wie sich Heideggers Idee einer Hermeneutik der Faktizität zur vollen Gestalt in Sein und Zeit entfaltet hat. Heidegger führt eine völlig neue Terminologie für die Grundbegriffe seiner Philosophie ein. Dabei verwendet er als wesentliche Grundbegriffe In-der-Welt-sein und Sorge. Die beiden Begriffe, können als das Ergebnis seines Weges zwischen Logik und Leben zur radikalen Kategorienforschung angesehen werden.   Beide Begriffe drücken seine Abkehr von den vom täglichen Leben losgelösten Wissenschaften aus. Heidegger wendet sich stattdessen hin zu den Fakten der Lebensbewegung des Menschen zwischen Geburt und Tod, so wie sie vor und außerhalb bestimmter Wissenschaften gegeben sind.

Heidegger ist in Sein und Zeit der Seinsart des Seienden auf der Spur, in dem sich Welt konstituiert. Dabei bricht er mit seinem Lehrer Husserl und der Husserlschen Phänomenologie. Übereinstimmung zwischen beiden besteht zwar darin, daß das Seiende im Sinne dessen, was sie Welt nennen, in seiner trasnzendentalen Konstitution nicht aufgeklärt werden kann durch Rückgang auf Seiendes von ebensolcher Art. Heidegger sucht jedoch in seinem neuen Werk nach einer Fundamentalontologie des Daseins. Er will aufzeigen, daß die Seinsart des menschlichen Daseins total verschieden ist von der Seinsart alles anderen Seienden. In der totalen Verschiedenheit birgt sie auch gerade die Möglichkeit der transzendentalen Konstitution. Der konkrete Mensch ist als solcher - als Seiendes nie eine weltlich reale Tatsache, er ist nicht einfach vorhanden, sondern er existiert.

Das `Wundersame', das total Verschiedene, liegt dabei darin, daß die Existenzverfassung des Daseins die transzendentale Konstitution alles Positiven ermöglicht. Das Konstituierende ist etwas und seiend - jedoch von einer anderen Art als der des Positiven. Heidegger fordert also im Gegensatz zu Husserl, daß das Konstituierende in dem gesamten menschlichen Dasein in einer Welt gesucht wird. Somit fordert Heidegger also auch ein Abgehen von Husserls Regionen oder regionalen Ontologien. Heidegger behauptet gegen Husserls Phänomenologie, daß sich die `Verfassung' der Weltregionen (d.h. die strukturelle Gliederung und Konstitution der Welt) nicht in einem Bewußtsein vollzieht, sondern im faktischen, konkreten Existieren. Husserl wollte den Menschen unter den übrigen Seinsbereichen einordnen, Heidegger hingegen behauptet die totale Verschiedenheit des menschlichen Seins von allem anderen Seienden.

Er geht nicht von einem Bewußtsein aus, das Eindrücke von der Außenwelt empfängt und sich entsprechende Ideen und Vorstellungen macht. Vielmehr fordert er, daß das Sein, wie es   uns in alltäglichen Lebenssituationen begegnet, und die Welt als jeweils praktische Handlungszusammenhänge der Ausgangspunkt sind.


Dies soll an folgendem Beispiel erläutert werden:

Heute vormittag muß ich zuerst in die Bibliothek und anschließend plane ich noch ein paar Winterschuhe zu kaufen. Ich hoffe, daß ich in der Bibliothek ein geeignetes Buch finde, daß die Bibliothekarin mir schnell weiterhelfen kann, damit ich noch genug Zeit für den Schuheinkauf habe. Hoffentlich finde ich ein passendes Paar, das vor allem genug Halt gibt und bequem ist. Das etwa sind meine Gedanken bei meiner Fahrt in die Stadt, zur Bibliothek. Dann befinde ich mich in der Bibliothek am Register usw.

Später bin ich im Schuhgeschäft und lasse mir von der Verkäuferin die Schuhkollektion zeigen. Ich denke schon an den kommenden Winter und möchte ein Paar Schuhe mit Felleinlage usw.

Jeder könnte die Geschichte, so oder so, weitererzählen. An diesem Beispiel lassen sich grundlegende Einsichten aus Sein und Zeit erläutern. Nach Heidegger haben viele philosophische Ansätze diese Einsichten verfehlt, weil sie die durchschnittliche Alltäglichkeit übersprungen haben. Sie haben die `Ferne des Nahen' unterschätzt.

Stattdessen hatte die klassische Analyse der Philosophie etwa Probleme der folgenden Art aufgeworfen: Wie gelangt das isolierte Ich zur Außenwelt ? Wie ist wahre Erkenntnis der Wirklichkeit möglich ? etc.

Heidegger sieht in dieser klassischen Analyse der Bewußtseinsphilosophie   mitsamt ihren Fragen eine methodologische Unmöglichkeit.

Denn in der Alltäglichkeit zweifelt niemand an der Existenz der Bibliothek oder der Bibliothekare, und es zweifelt auch niemand daran, daß die Bibliothekarin über ebensolche Wahrnehmungs- und Erkenntnismöglichkeiten verfügt, wie man selbst.

Vielmehr unterstelle man einfach durch sein praktisches Tun, daß die Bibliothekarin existiert und daß man hier nichts bezweifelt. Man zweifelt nicht an der Existenz der Außenwelt aber man behauptet sie auch gar nicht erst. Man fährt einfach nur in die Stadt, geht einfach in die Bibliothek oder in das Schuhgeschäft ohne irgendetwas zu hinterfragen.


Zunächst läßt sich also festhalten, daß wir uns in primären praktischen Lebenssituationen wie selbstverständlich `in der Welt' bewegen. Und ebenso leben wir mit den anderen, `mit den Mitmenschen' gemeinsam in diesen Situationen. Diese Grundzüge des menschlichen Lebensvollzugs, das In-der-Welt-sein   und das Mit-sein-mit-anderen, nennt Heidegger Existenzialen.   Sie bezeichnen keine Eigenschaften einzelner Subjekte, sondern die Form von komplexen Lebensvollzügen. Somit sind Feststellungen wie `Ich bin auf der Welt' völlig verschieden von Feststellungen wie `Ich habe braune Augen' oder `ich bin 1,72m groß'. Die beiden letzten Feststellungen betreffen objektive Eigenschaften, dingliche Qualitäten meines Körpers. Die Begriffe für solche Qualitäten nennt Heidegger Kategorien. Nicht-menschlich Seiendes läßt sich demnach nur-kategorial beschreiben. Wenn ich aber sage, daß ich auf der Welt bin, dann betrifft diese Feststellung die Form meines Lebens und keine Eigenschaft meiner Person, meines Bewußtseins.

Vor allem aber ist mein In-der-Welt-sein keine Tatsache in meinem Leben oder in meiner Welt. Daß ich in der Welt lebe, diese `ontologische', `formale' bzw. `existenziale' Tatsache, das sehe ich an nichts in der Welt. Vielmehr ist es die Voraussetzung - die transzendentale Konstitutionsbedingung - für Welt überhaupt.

Ebenso wie nichts in meinem Gesichtsfeld darauf hindeutet, daß es von einem Auge aus gesehen wird.8.6 Das In-der-Welt-sein bedeutet, jeweils (immer schon) in bestimmten bedeutungsvollen praktischen Lebenssituationen zu sein. Wenn ich z.B. jetzt beim Anprobieren im Schuhgeschäft bin, so begegnet mir innerweltlich Seiendes, nämlich jeweils ein Schuh   `zum Anprobieren'. In den primären Lebenssituationen handelt es sich nicht um eine theoretische Gegenständlichkeit, die ich bloß theoretisch anschaue. Das wäre das Verhältnis zu etwas Vorhandenem.   Ich befinde mich aber nicht in einem solch distanzierten Verhältnis zu der mich umgebenden Außenwelt. Sondern ich befinde mich gerade bei den Schuhen, bei der Anprobe. Die Schuhe werden von der Verkäuferin gereicht und ich probiere sie an und prüfe, ob sie auch ausreichend bequem sind. Heidegger nennt solches Seiende Zeug, und seine Seinsart Zuhandenheit.   Die Welt begegnet zunächst stets in solchen praktischen Lebenszusammenhängen. Das Zeug, hier Schuhe, Schuhlöffel, der Stuhl auf dem ich sitze usw. - bildet einen Verweisungszusammenhang.   Die einzelnen Gebrauchsgegenstände verweisen aufeinander, weil sie eine Bewandtnisganzheit bilden.   Das Schuhgeschäft ist gerade so eingerichtet, daß man sich beraten lassen, Schuhe auswählen, anprobieren und kaufen kann. Die Bibliothek ist so eingerichtet, damit man in ihr studieren und nach Literatur recherchieren kann, sie enthält Kataloge, Arbeitsplätze, es sind sachkundige Bibliothekare da, usw.

Diese Struktur des um-zu konstituiert die gesamte existenzielle, praktische Räumlichkeit und auch Zeitlichkeit. Wenn wir uns in der von Menschen bewohnten Welt umblicken, so wird der Gebrauchssinn der Räume und der Zeiten offenkundig. Dort ist der Parkplatz, dort die Straßenbahnhaltestelle und dort hinten die Einkaufsstraße. Die Geschäfte liegen in der Einkaufsstrasse dicht beieinander, damit man die alltäglichen Besorgungen unmittelbar nacheinander erledigen kann.


Somit ist festzuhalten:

1.
Das menschliche Dasein, seine praktischen Lebensvollzüge, bilden die Basis zum Verständnis der Welt und allem übrigen Seienden.
2.
Das Dasein ist immer schon in der Welt aufgegangen, indem es sich in ihr tätig orientiert, um jeweils etwas zu erreichen, etwas zu besorgen, etwas zu vermeiden, usw.
3.
Das zunächst begegnende Seiende hat für das Dasein die Seinsart der Zuhandenheit. Es ist zu etwas gut und wird dazu benutzt, um dieses oder jenes zu tun.
Die primäre Art und Weise, in-der-Welt zu sein, nennt Heidegger daher die Sorge - das tätige Umgehen mit etwas.   Beispielsweise stehe ich morgens auf und gehe ins Badezimmer, um mir die Zähne zu putzen. Normalerweise würde ich die Zahnbürste nicht erst noch besonders bemerken, sondern dieses Zeug einfach zur Hand nehmen, um mir die Zähne zu putzen. Es bestünde ein einfacher Bewandtniszusammenhang. Wenn nun plötzlich keine Zahnbürste da ist, dann erst bemerke ich eigens, daß sie überhaupt da, im Sinne von vorhanden war. Erst durch die Störung der Verweisung wird die Verweisung   ausdrücklich. Je `reibungsloser' alles funktioniert, desto fragloser gehe ich in der Welt auf. Ja, ich bin von ihr benommen. Insofern macht die ursprüngliche, tätige Weltvertrautheit unser Seinsverständnis aus.


Damit hat Heidegger also dargelegt, daß

Vielmehr gilt:

Die Welt, meine Welt, gliedert sich zunächst räumlich und zeitlich in sinnvolle Verweisungszusammenhänge.

Im alltäglichen Umgang weist das Zeug, das zur Besorgung bestimmter Dinge zuhanden ist, immer auch schon auf andere hin, die es hergestellt haben oder es ebenfalls gebrauchen können. Beispielsweise ist die Bibliothek mit ihrem Register und den Bibliotheksangestellten gerade so eingerichtet, daß sie nicht nur von mir, sondern auch von anderen benutzt werden kann. Sie ist für die Zwecke die man in einer Bibliothek verfolgt, eingerichtet. Diese Öffentlichkeit der alltäglichen Lebenssituation nennt Heidegger auch die Ausgelegtheit durch das Man.   Das großgeschriebene Man bezeichnet dabei das Wer der Alltäglichkeit. Das Man bügelt gleichsam alles Große und Bedeutende nieder, macht es sich für seine banale Durchschnittlichkeit zurecht.

Jeder Vorgang wird geräuschlos niedergehalten. Alles ursprüngliche ist über Nacht als längst bekannt geglättet. Alles Erkämpfte wird handlich. Jedes Geheimnis verliert seine Kraft. Die Sorge der Durchschnittlichkeit enthüllt wieder eine wesenhafte Tendenz des Daseins, die wir die Einebnung aller Seinsmöglichkeiten nennen.8.7

Geworfenheit nennt Heidegger die Art, wie das ich zu seinem eigenen In-der-Welt-sein gekommen ist.

Die Geworfenheit ist nicht die faktische Geburt, sondern die konstitutive Form jedes menschlichen Lebens. Der von Heidegger gewählte Ausdruck deutet an, daß wir ungefragt und ohne persönliche Zustimmung in die Welt gekommen sind. Diese Geworfenheit, dieses ungefragte In-die-Welt-gekommen-sein, ist die Form, die die Faktizität des Daseins in Sein und Zeit annimmt.

Heidegger nennt sie auch die (konstitutive) Tatsache, sein Da sein zu müssen.

Unser jeweiliges Da sein, das können wir im konkreten Lebensvollzug nur so, daß wir selbst handeln. Im großen Maßstab, auf unser ganzes Leben bezogen, so Heidegger, existieren wir. Das Dasein aber hat zweierlei:

Die Geworfenheit meint das Da-sein müssen, während die Existenzialität, der Entwurf-Charakter, das Da-sein können ausdrückt.

Im Sich-Entwerfen nimmt das Dasein gleichzeitig ein Verhältnis zu sich selbst ein: indem es sein Sein zu sein hat, verhält es sich selbst zu seinem Sein: Es geht ihm um sein eigenes Sein.

Diese beiden Grundzüge: Faktizität und Existenzialität, faßt Heidegger mit der Formulierung zusammen, Dasein sei geworfener Entwurf.8.8

Ein drittes Strukturmoment tritt als die Verfallenheit in Sein und Zeit auf. Verfallenheit meint, daß das Dasein als geworfener Entwurf sich entwerfend gleichzeitig bereits an die Alltäglichkeit des Man gebunden - verfallen - ist. Durch das Man, durch die Öffentlichkeit der Verweisungszusammenhänge ist es bereits entfremdet. Beispielsweise zeigt sich diese Entfremdung bereits in der Schuhkollektion, die das Schuhgeschäft anbietet. Die Schuhe sind so entworfen und auch ihre Größen so ausgewählt, daß auch andere etwas Passendes finden. Die Schuhverkäuferin wird mich bei der Anprobe vielleicht darauf hinweisen, daß ein bestimmter Schuh besonders häufig gekauft wird. Dadurch wird auch meine Entscheidung so oder so beeinflußt werden.


Heideggers Dasein läßt sich also in die drei gleichursprünglichen Momente

aufgliedern.

Heidegger fragt also nach der ursprünglichen Einheit des Strukturganzen von Dasein.

Die Geworfenheit aber ist die Seinsart eines Seienden, das je seine Möglichkeiten selbst ist, so zwar, daß es sich in und aus ihnen versteht (auf sie sich entwirft). ... Das Selbst aber ist zunächst und zumeist uneigentlich, das Man-selbst. Das In-der-Welt-sein ist immer schon verfallen. Die durchschnittliche Alltäglichkeit des Daseins kann demnach bestimmt werden als das verfallend-erschlossene, geworfen-entwerfende In-der-Welt-sein, dem es in seinem Sein bei der Welt und im Mitsein mit anderen um das eigenste Seinkönnen selbst geht.8.9


Die Befindlichkeit , die Gestimmtheit  ist eine Form der Faktizität. Heidegger zählt die Befindlichkeit zu den transzendentalen Möglichkeitsbedingungen des In-der-Welt-seins. Die Welt ist mir immer in einer bestimmten Stimmung erschlossen, das heißt zugänglich und verstehbar. Ich kann fröhlich, traurig, müde, munter usw. sein, während ich mein In-der-Welt-sein erlebe und Besorgungen mache. Die Furcht ist ebenfalls eine solche Stimmung, ein Modus der Befindlichkeit. Das Wovor der Furcht ist dabei immer ein innerweltlich Begegnendes.8.10 Man kann sich beispielsweise vor Arbeitslosigkeit fürchten oder davor, daß man nicht die richtigen Schuhe im Schuhgeschäft bekommt.

Die Angst hingegen, hat kein innerweltlich Seiendes als Wovor der Angst. Das Wovor der Angst ist vielmehr das In-der-Welt-sein als solches.

Worum sich die Angst ängstet, ist das In-der-Welt-sein selbst. In der Angst selbst versinkt das umweltlich Zuhandene, überhaupt das innerweltlich Seinende. Die `Welt' vermag nichts mehr zu bieten, ebensowenig das Mitdasein anderer. Die Angst benimmt so dem Dasein die Möglichkeit, verfallend sich aus der `Welt' und der öffentlichen Ausgelegtheit zu verstehen. Sie wirft das Dasein auf das zurück, worum es sich ängstet, sein eigentliches In-der-Welt-sein-können.


Heideggers Zeitlichkeitsanalyse wird durch die Gleichursprünglichkeit   von Aspekten der Lebensphänomene deutlich.

Einfache Beispiele hierfür sind ganze Sätze, in denen sich kein Wort entfernen läßt, ohne den Satzsinn zu zerstören: `Dieses Auto fährt schnell.' In diesem Satz bildet sich der Sinn gleichursprünglich aus allen vier Worten. Dies meint Heidegger entsprechend angewendet auf ganze Lebenssituationen. Man stelle sich beispielsweise ein Foto vor, auf dem zwei Staffelläufer bei der Übergabe der Staffel zu sehen sind. Der eine Läufer reicht dem anderen die Staffel, der andere streckt seinen Arm aus, um die Staffel zu übernehmen.

Ich kann diese - auf dem Foto erstarrte - Lebensbewegung nur verstehen, wenn ich sie nach hinten und nach vorne fortzusetzen vermag. Die obige verständliche Beschreibung des Fotos - ohne es vorzuzeigen - setzt schon diese minimale Ganzheit einer jeder Lebenssituation voraus.

Husserl hatte solche Ganzheit anhand von Beispielen aus der Musik erläutert. Das Hören einer Melodie ist nicht auf Hören jeweils eines einzelnen Tones zu reduzieren. Um eine Melodie zu vernehmen, muß ich (mindestens) jeweils noch den gerade verklungenen Ton im Ohr haben und, indem ich den jetzt erklingenden Ton höre, muß ich schon den (möglichen) nächsten Ton in Gedanken vorwegnehmen. Das Vorwegnehmen nennt Husserl die Protention des inneren Zeitbewußtseins und das Nachklingen die Retention.

Mit seinen Analysen zur Gleichursprünglichkeit in der existenzialen Konstitution des In-der-Welt-seins weitet Heidegger solche, zunächst auf einzelne Wahrnehmungssituationen bezogenen phänomenologischen Untersuchungen auf das Ganze des menschlichen Selbst- und Weltverhältnisses aus.

Das Zeitliche geht somit gleichursprünglich aus dem Zukünftigen, dem Gegenwärtigen und dem Vergangenen hervor.


next up previous contents index
Next: Die phänomenologische Kritik an Up: Phänomenologie Previous: Phänomenologie
Achim Hoffmann
2002-07-12